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Mein Einsatz im Kosovo (07.11.02 bis 17.01.03)

Oberstlt d.R. Heinz Nägele
Mein Einsatz im Kosovo (07.11.02 bis 17.01.03)

1. Vorbereitende Ausbildung
Im September und Oktober absolvierte ich an verschiedenen Standorten die für jeden Soldaten vor einem Auslandseinsatz vorgeschriebene, umfangreiche Zusatzausbildung, z.B.  Informationen über den Kosovo, die aktuelle Bedrohungslage, Verhalten gegenüber Störern und Angreifern, Umgang mit Minen und versteckten Ladungen...

2. ... es geht los
Hart war der Abschied von der Familie und vom vertrauten Umfeld am 07. November!

Nach einer kurzen Nacht in der Horber Kaserne bringen uns zwei Busse zum Flughafen Stuttgart, wo der Airbus der Luftwaffe in Richtung Skopje (Mazedonien) startet.
Über dem Allgäu eine tolle Sicht, und über den Schweizer Alpen dient unser Airbus der Schweizer Luftwaffe sogar als Übungsziel...

Erste Aufregung in Skopje nach der Landung: Weil ein Soldat verbotenerweise einen vor sich hinrostenden russischen Militärhubschrauber fotografierte, hält uns die mazedonische Polizei eine Stunde fest!

Professionell die Abfertigung durch die Kameraden am Flugplatz! Dann brausen 15 Busse -  voraus die Feldjäger (Militärpolizei der Bundeswehr) mit Blaulicht, zum Schluss ein Sanitätspanzer – in gewagtem Tempo auf steilen Straßen über die Berge in Richtung Kosovo. Entgegenkommende Lastwagen nehmen wenig Rücksicht auf Blaulicht, Nacht, Nebel, enge und glatte Straßen... wir sind auf dem Balkan!

Im Feldlager Prizren werden wir in unsere Unterkünfte eingewiesen: Gebäude, Container, Zelte.

3. Der Dienst im „Rescue Coordination Center“ (RCC)
Der bisherige Leiter weist uns intensiv in unsere Aufgaben ein; sein Team freut sich auf die Rückreise nach 6 Monaten anstrengendem Schichtdienst.

Das „Rettungskoordinations-Zentrum“ (RCC) gehört zum Stab der Multinationalen Brigade in Prizren und nimmt im wesentliche die Aufgaben einer Rettungsleitstelle wahr: Koordi-nation und Einsatz von Rettungspersonal und –mitteln (Fahrzeuge, Hubschrauber) zur Rettung sowie ggfs. Verlegung verletzter oder erkrankter Soldaten ins Heimatland.
In Ausnahmefällen werden auch Einheimische versorgt.

Erschwerend kommen jedoch zahlreiche militär- und auslandsspezifische Herausforderungen hinzu:
Die Arzt- und Sanitätertrupps sind oft sehr lange mit Konvois (bis nach Griechenland) oder tagelang zu Fuß in den Bergen unterwegs, Kranke müssen teilweise aus unzugänglichen Bergregionen gerettet werden, die Telefon- und Funkverbindungen reißen ab, Straßen sind oft unpassierbar, Einheimische versuchen mit Falschangaben zur Behandlung in das Feldhospital zu kommen oder sie legen Schwerverletzte einfach an der Torwache ab und fahren davon...

Zu meiner „Mannschaft“ gehören auch zwei tüchtige italienische Kameraden (davon ein Arzt), die vorrangig mit ihren Landsleuten funken und telefonieren.
Englisch ist Betriebs- und Computersprache, was unseren Dienst wesentlich erschwert.

Zwei weitere Wehrübende, im Zivilberuf Rettungsleiter, erleichtern uns die schwierige Aufgabe sehr. Wir sind mit jeweils zwei Soldaten bzw. Soldatinnen Tag und Nacht präsent, natürlich auch an den Feiertagen! Sieben Festnetz- und Mobiltelefone sowie 9 Funkgeräte mit rd. 20 Frequenzen bzw. Kanälen verbinden uns mit den wesentlichen Stellen bis weit in den Norden des Kosovo sowie nach Mazedonien.

Vielfältig sind die von uns einzusetzenden und zu koordinierenden über 40 Rettungs-fahrzeuge: neben Sanitätspanzern („Fuchs“), Unimogs und Mercedes-Jeeps („Wolf“) können wir deutsche und  italienische  „SAR“-Hubschrauber sowie Großraumhubschrauber einsetzen. Weitere Rettungshubschrauber stellen uns notfalls die Amerikaner ab.

Die ärztliche und pflegerische Versorgung erfolgt im gut ausgestatteten Feldhospital hier in Prizren sowie in einem italienischen und einem spanischen Feldhospital in der nördlichen Region.

Sehr interessant sind die international besetzten Übungen und Besprechungen! Beispiele: vor einer Katastrophenschutzübung erkläre ich –  zusammen mit einem italienischen Klinikchef – unser militärisches Rettungssystem.  Zuhörer sind kosovarische Bürgermeister der umliegenden Städte, die Leiter des Katastrophenschutzes, der Feuerwehr, der Polizei, aber auch deutsche Polizisten, Soldaten aus vielen Nationen sowie der schwedische Leiter der UN-Verwaltung.

Bei einer Übung im Gelände fährt ein Schweizer Schützenpanzer auf eine Mine auf.
Die „Verletzten“ werden von einem österreichischen „Spider-Man“ (Kampfmittelbeseitiger)  am Seil eines deutschen Hubschraubers geborgen. Während die „Verletzten“ von deutschen Ärzten versorgt werden, löscht die Schweizer Feuerwehr das Wrack. Unter den Zuschauern sind Soldaten aus Russland, Georgien, Marokko, Aserbeitschan, Finnland, Türkei, Bulgarien, Argentinien...

Kleinere Einsätze werden schnell zur Routine. Aber wenn es darum geht, nachts einen akut erkrankten Soldaten aus einer unzugänglichen Bergregion zu retten, ist schnelles Planen und Handeln gefragt: Wegen Schneetreiben und Nebel kann unser Rettungshubschrauber  zunächst nicht eingesetzt werden. Da sogar ein Unimog nicht durchkäme, kalkulieren wir auch den Einsatz von Maultieren der dort stationierten Gebirgsjäger...aber alles würde zu lange dauern! Schließlich holt ein SAR-Hubschrauber – bei völliger Dunkelheit und unter widrigsten Bedingungen - doch noch den Kameraden heraus und fliegt ihn in unser Feldhospital.

Für einen Kameraden mit Herzinfarkt organisieren wir den Rettungshubschrauberflug nach Skopje sowie – in Zusammenarbeit mit der Luftwaffe in Münster – den sofortigen Rückflug nach Deutschland an Bord einer „Challenger“ ( einer so genannten fliegenden Intensivstation) zum Bundeswehr-Zentralkrankenhaus nach Koblenz.

Gelegentlich rufen Angehörige schwerkranker Einheimischer an und bitten um Hilfe. Ein verzweifelter Vater, dessen kleiner Tochter mit Hirnblutungen in der Universitätsklinik Pristina nicht mehr geholfen werden kann, bittet unter Tränen um Verlegung in unser Feldhospital. Mit schwerer Stimme muss ich ihm klar machen, dass wir hier nicht helfen können.
Dies gilt auch für zwei Zivilisten: sie stellten vermutlich eine versteckte Ladung her, die frühzeitig detonierte. Bis unser Hubschrauber in einer unzugänglichen Schlucht an der albanischen Grenze landen kann, sind die beiden an ihren schwersten Bauchverletzungen verstorben.

4. Die Lage im Kosovo
Im Kosovo selbst ist es relativ ruhig; gelegentlich sind in der Stadt Schüsse zu hören, werden Handgranaten in Geschäftshäuser geworfen, und immer wieder kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Gaunern, die um Macht und Einfluss kämpfen.

Ein großes Problem sind viele unentdeckte Minen und versteckte Ladungen. Immer wieder werden z.B. Kinder schwer verletzt. Erwachsene sammeln scharfe Ladungen ein und legen sie an ihrer Grundstücksgrenze zum Schutz gegen Diebe ab! Deshalb gibt es kein garantiert minenfreies Gebiet; daher muss vor jeder Rettung in freiem Gelände der Minensuchdienst das Gelände prüfen!

Bei den Hubschrauberflügen staune ich über die Schönheit des Landes, besonders der Bergwelt! Allerdings sind alte Schützengräben und Panzerstellungen sowie viele zerstörte Häuser eine deutliche Erinnerung an den langen Krieg.

Zwischen modernen Militärfahrzeugen fahren  kleine Pferde- oder Eselkarren gemächlich die engen, schmierigen Straßen entlang. Überall liegen Müllberge, die qualmend die Luft verpesten.
Leider verhindern die strenge Ausgangsregelung und der ständige Dienst größere  Erkundungen des Landes.

5. Vor den Feiertagen
Inzwischen sind die ersten Tannenbäume aus der Heimat eingeflogen und im Lager aufgestellt worden. Von den Ingolstädter Pionieren ergattere ich einige Zweige, die mein Zimmer schmücken. Man wird bescheiden...

Um abgelenkt zu sein, aber auch als  Anerkennung für mein Team werde ich am Heiligen Abend und an Sylvester den Nachtdienst übernehmen, in Gedanken sicherlich bei der Familie!

6. Eine Zwischenbilanz
Das Mindeste, was man bei solchen Auslandseinsätzen lernen kann, ist Bescheidenheit, aber auch Dankbarkeit, dass wir in Deutschland in vergleichsweise sehr wohlgeordneten Verhältnissen, insbesondere aber in Frieden und Freiheit leben können. Man wird zufriedener mit dem was man hat, und kann neue Prioritäten setzen...

Bilder: Heinz Nägele

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